Ein blinder Fleck in der Literaturvermittlung

»Schnell, nennen Sie mir zwanzig deutsche Schriftsteller!« Wenn ich diesen Satz einmal hören sollte, wäre ich sofort bereit. Ein Schalter würde sich in meinem Kopf umlegen, und ich könnte alle Namen abrufen, Goethe, Schiller, Rilke, Remarque, Kästner, Namen, mit denen ich aufgewachsen bin, die ich bewundere, die ich in der Schule kennengelernt habe, Storm, Fontane, Hauptmann - »Nennen Sie zwanzig deutsche Schriftstellerinnen!« Von Neuem rasselt es in meinem Kopf, alle Synapsen springen an, längst verschollene Erinnerungen, Lasker-Schüler... die Sekunden verstreichen, mir fallen keine Namen ein, Anna Seghers... Astrid... verdammt.

"Junge Dame beim schreiben eines Briefs" via wikimedia commons

Mein Gehirn quillt über vor Schriftstellern. Ich könnte nicht aus dem Stegreif dieselbe Anzahl Schriftstellerinnen nennen wie Autoren. Es ist nicht so, dass ich Frauen als Autorinnen nicht wertschätze. Dass ich sie absichtlich ignoriere. Sie tauchten schlichtweg einen Großteil meines Lebens nicht auf.

Frauen machen die Hälfte der Menschheit aus, sie schreiben genauso gut wie Männer. Und doch habe ich in sechs Jahren Gymnasialzeit kein einziges Buch von einer Frau lesen sollen. Stellt das eine realistische Betrachtung der deutschen und globalen Literatur dar? In der zehnten Klasse haben wir ein halbes Jahr lang Sturm und Drang-Gedichte von Goethe rauf und runter gebetet, dazu noch die »Ode an die Freude« von Schiller, und Goethes Affären und Beziehungen auswendig gelernt, weil sie ihn zu seinen Werken inspirierten. Frauen führten ein Randdasein in meinem Schulunterricht, transgender[1] und nicht-binäre[2] Personen wurden niemals erwähnt. Wenn es ein Frauenname doch mal in den Deutschunterricht geschafft hat, dann nur, weil diese Dame mit einem berühmten Schriftsteller verheiratet war.

In einer meiner Parallelklassen wurde ein einziges Buch einer weiblich gelesenen Person[3] behandelt: das Tagebuch von Anne Frank. Wie mir meine Freundin aus dieser Klasse mitteilte, wurde Anne Frank jedoch nicht als eine Schriftstellerin vorgestellt, sondern als das jüdische Mädchen, das unter dem nationalsozialistischen Regime litt und ermordet wurde. Sie wurde als Beispiel für den Holocaust genommen, um den Schüler*innen der neunten Klasse diese historische Grausamkeit zu vermitteln. Zu Recht ist das Buch berühmt geworden, denn Tagebücher bringen uns so nah wie möglich an die Vergangenheit und führen uns in die Gedankenwelt dieses Menschen, der unter diesen schlimmen Umständen leben musste. Nur frage ich mich, wieso das Tagebuch von ihr nicht auch als das Werk einer Schriftstellerin betrachtet wurde. Das einzige Werk einer Frau, das die Klasse jemals behandelt hat, wurde als das Buch eines Opfers dargestellt. Dabei ist Anne Frank eben nicht nur ein jüdisches Mädchen und hätte neben dieser Eigenschaft es auch verdient, als Schriftstellerin vorgestellt zu werden. Anne Frank hörte im Radio die Aufforderung der niederländischen Regierung, Kriegsaufzeichnungen aufzubewahren. Sie verfolgte das Ziel das Tagebuch nach dem Krieg als Autorin zu veröffentlichen und überarbeitete es deswegen mehrfach, in dem sie es lektorierte und war in dem Sinne bereits eine Schriftstellerin.

Fehlende Repräsentation findet ihren Weg in unsere Köpfe. Ich wollte meine ganze Schulzeit über Schriftstellerin werden und hätte gerne mehr über Frauen erfahren, die vor mir dieses Ziel hatten und es auch erreicht haben. Aber keine einzige Schriftstellerin fand sich in unserem Unterricht. Warum sollte ich als Mädchen versuchen, Schriftstellerin zu werden, wenn niemand mir Erfolgsgeschichten von ihnen erzählt? Wie Johny Pitts in seinem Buch »Afropäisch« schreibt, fehlten ihm als Kind und Jugendlicher schwarze Vorbilder in den Medien und in seinem Umfeld: „Bildung hat nur Sinn, wenn man sieht, was man mit harter Arbeit erreichen kann, wenn man sich eine Zukunft für sich selbst vorstellen kann.“ Und dieses Phänomen ließe sich auf viele Menschen übertragen, die keine Erwähnung in unserem Unterricht finden: Unser Kanon von wichtiger Literatur ist weiß und männlich. Der Literaturunterricht spiegelt nicht die Vielfalt der literarischen Werke wider. Er zeigt unsere Kulturgeschichte aus einer einzigen Perspektive.

Bis vor wenigen Jahren ist mir nicht aufgefallen, dass ich in meinen Lesejournalen fast nur Männer zitiere. Aber als mir diese offensichtliche Ungerechtigkeit auffiel, konnte ich auch nicht mehr aufhören, sie zu sehen – warum werden Werke von Frauen nicht gelehrt? Warum tauchen in der Liste »50 große Romane des 20. Jahrhunderts« der Süddeutschen Zeitung kaum Autorinnen auf?

Vor allem ein Buch half mir diese Fragen zu beantworten, die ich mir mit 18 Jahren stellte: »Frauen, die schreiben, leben gefährlich« von Stefan Bollmann.

»Ich muss mich doch wirklich drüber wundern, wie unsere Weiber jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt« schrieb Schiller an Goethe über die Schriftstellerin Sophie Schubart. Historisch gesehen ist es nur logisch, dass weniger Werke von Frauen existieren und gelehrt werden. Denn sie hatten weniger Zeit zum Schreiben und sie hatten nicht das Recht zu studieren. Schließlich traute die Gesellschaft ihnen nicht zu, dass sie kognitive Leistungen erbringen können. Sie sollten viele Kinder bekommen und erziehen, kochen, die Wäsche waschen, das Haus putzen. Alles Aufgaben, die vor Jahrhunderten noch zeitraubender waren als heute und um die sich Männer nicht zu kümmern brauchten. Thomas Mann hatte beispielsweise jeden Tag eine strenge Schreibroutine, die besagte, dass er sich stundenlang in seinem Arbeitszimmer einschloss und nicht gestört werden durfte. In der Zeit, in der er sich seinen Gedanken widmen konnte, musste vermutlich seine Ehefrau die Kinder bespaßen und von seiner Zimmertür fernhalten. In jedem Fall war es selbstverständlich, dass er nicht die Kinder betreuen musste. Ein Selbstverständnis, was für Frauen nahezu unmöglich war, sonst würde es Wörter wie Rabenmutter nicht geben. Neben diesen Pflichten, die Ehefrauen und Mütter hatten, gab es wenig Platz für die eigenen Werke. »Meinem Mann gefällt es nicht, dass ich mich so ganz der Schriftstellerei widme. Er sähe mich lieber als virtuose Hausfrau«, schrieb Bozena Nemcová. »Frauen regeln den Alltag von Männern, damit diese schreiben (…) können. Wer regelt eigentlich den Alltag von Frauen?«, fragt Elke Heidenreich in besagtem Buch.

Ich hoffe sehr, dass heutige 16-jährige Jugendliche einen anderen Unterricht erleben als ich und sich Lehrer*innen bewusst damit auseinandersetzen, welche Werkzeuge und Blickwinkel sie diesen jungen Menschen an die Hand geben. Mir wurde subtil beigebracht, dass es ausschließlich männliche gefeierte Schriftsteller in der Geschichte gab, ohne zu hinterfragen, wie sie diesen Ruhm erlangen konnten und ob es auch unbeachtete weibliche oder nicht-binäre Talente gab. Denn wie konnten diese Männer überhaupt ihre Talente entfalten? Ein wichtiger Teil der Antwort besteht eben darin, dass sie Männer mit gewissen Privilegien waren. Und solange diese Tatsache in der Schule nicht behandelt wird, schauen wir selbst im 21. Jahrhundert durch eine Brille, die einige Menschen überhöht und andere gleichzeitig degradiert.

Swantje Kautz

 

 

Quellen und weiterführende Literatur:

Hg. Fischer Verlag (2001): Anne Frank Tagebuch; 19. Auflage.

Pitts, Johny (2020): Afropäisch - Eine Reise durch das schwarze Europa; 1. Auflage.

Bollmann, Stefan (2006):  Frauen, die schreiben, leben gefährlich; 1. Auflage.

Stokowski, Margarete (2018): Untenrum frei; 4. Auflage.

Primo Levi, Primo (2010): Ist das ein Mensch?; 12. Auflage.

 


[1] Transgender Menschen sind Menschen, deren subjektiv wahrgenommene Geschlechtsidentität nicht mit der bei der Geburt vorgenommenen Zuweisung zu einem sozialen und biologischen Geschlecht einhergehen.

[2] Nicht-binäre Menschen identifizieren sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich und sehen sich daher außerhalb der zweigeteilten Geschlechtszuordnung.

[3] Eine weiblich gelesene Person wird von der Gesellschaft als Frau identifiziert und als solche behandelt, ohne die subjektiv wahrgenommene Identität zu kennen oder zu berücksichtigen.