Die Vergangenheit und Du

Denkst du auch manchmal darüber nach, wie du wohl wärst, wenn du das Leben unter ganz anderen Bedingungen entdeckt hättest? Wie hättest du wohl zu dir selbst gefunden, wenn du andere Eltern gehabt hättest, in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen wärst oder sogar in einer fernen Zeitepoche. Was wäre dann noch von deinem Selbst, wie du es heute kennst, übrig? Letztens habe ich mit meinem besten Freund darüber nachgedacht, wie wir uns wohl in der Steinzeit kennengelernt hätten, weit entfernt von dieser ausdifferenzierten Gesellschaft mit ihren unzähligen Identitätsentwürfen, in der wir unserem Leben zumindest grob eine ähnliche Richtung gegeben haben. Schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Orte, Zeiten und Menschen es auf dieser Welt gibt und gab und wir ausgerechnet in unserem Leben gelandet sind. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir oft auf, wie gut es mir eigentlich geht.

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Ich laufe durch Neuwied, meine kleine, unspektakuläre Heimatstadt direkt am Rhein. Es kann gut sein, dass du noch nie von ihr gehört hast. Menschen bedecken ihre Gesichter mit Masken, ansonsten hat sich nicht viel verändert, ich kenne die Wege und die Geschäfte, ab und zu nicke ich jemandem zu, den ich aus meinem alten Boxverein oder der Schule kenne. In diesen, von der kalten Winterluft durchzogenen, Straßen begann also meine Reise. Hier lernte ich so viele Menschen kennen, machte ich diese ganzen Erfahrungen, die mich zu einem großen Teil zu dem formten, der ich heute bin. Eigentlich kein besonders außergewöhnlicher Ort, um in das Leben zu starten, aber einer, in dem sich die Welt für mich immer in sehr sicheren und gewohnten Bahnen entfaltete. Wozu also hinausdenken, über diesen kleinen, aber so gemütlichen Horizont meines Lebens im Hier und Jetzt?

Gedankenversunken stoße ich auf einen kleinen, quadratischen und goldenen Stein, der aus dem grauen Pflasterstein der Neuwieder Fußgängerzone heraussticht. „Ferdinand Levy“ steht darauf. Geboren am 10.10.1886, gestorben am 12.11.1938. In unmittelbarer Nähe eine Gedenktafel, die besagt, dass er hier mit seiner Familie wohnte und am 10. November, am Vormittag nach der Reichspogromnacht also, so brutal vor seinem Haus zusammengeschlagen wurde, dass er schließlich an den Folgen dieses Gewaltexzesses starb. Verrückt. An diesem Ort, dessen Alltäglichkeit mich schon viel zu oft in einer tranceartigen Missachtung für die gesamte Umwelt entlanglaufen ließ, passierte etwas so unglaublich Grausames. Toni Dasbach beschreibt in seinem Buch „Auch ich war ein Kind dieser Zeit“, in dem er sich an seine Jugend während der NS-Zeit in Neuwied erinnert, diesen verhängnisvollen Morgen so: „Es war eine Szenerie wie nach einem Bombenangriff. Überall auf den Bürgersteigen lagen Möbel, Glas, Porzellan, Bilder, Bettwäsche. Die Mittelstraße, der Luisenplatz und die untere Engerser Straße sahen besonders schlimm aus. Bei unserem Metzger Moses in der Pfarrstraße wehten die Vorhänge aus den Fenstern; die Scheiben waren zerschlagen; Zivilisten kehrten die Bürgersteige. (…) Danach besaß die Familie Moses jedenfalls nichts mehr.“ Und das war erst der Anfang. Es ist auch noch gar nicht so lange her, 82 Jahre, also ungefähr die Zeitspanne eines Menschenlebens.

Mich interessiert das Schicksal von Ferdinand Levy und ich finde heraus, dass er eine Tochter hatte, Margot Levy. Auch wenn nicht viel über sie bekannt ist, liegt es mir an dieser Stelle am Herzen über sie zu berichten. Wie nahm sie es wohl wahr, als sie am Morgen des 10. Novembers 1938 auf die Straße lief und in einen Strudel voller Gewalt und Hass gezogen wurde? Konnte sie jemand trösten, als sie in einem diffusen Meer von kaputten Gegenständen, Schreien und Angst nach etwas Ordnung und Hoffnung suchte? Wie muss es wohl für sie gewesen sein, im Alter von 11 Jahren wohlgemerkt, auf den verletzten und geschundenen Körper des eigenen Vaters zu schauen, um dann einige Tage später zu hören, dass er seinen Verletzungen erlegen ist? Doch diese Fragen müssen schon viel früher anfangen, denke ich, als ich in der Neuwieder Einkaufsstraße vor dem Geschäft einer großen Buchhandelskette stehe. Hier war früher das Kaufhaus ERWEGE von Max Eschelbacher, einer von damals insgesamt 63 jüdischen Betrieben in der Neuwieder Innenstadt. Bekam es Margot als kleines Mädchen mit, als am Morgen des 30. Januar 1933 uniformierte SA- und SS-Männer vor den Türen des Kaufhauses patrouillierten, in aggressiver Manier Leute am Einkauf hinderten, Stinkbomben warfen und Tränengas freisetzten? Gerade Kinder haben trotz ihrer geringen Lebenserfahrung die erstaunliche Begabung, auch die kleinsten Stimmungen und Atmosphären wahrzunehmen. Wie tief muss sich dieses unbarmherzige Gefühl von Angst in solchen Momenten, die ab dann zur Regelmäßigkeit wurden, in das Bewusstsein eines Kindes brennen? Dann kommen mir all die Träume in den Sinn, die ich als Kind hatte, wie ich mir vorstellte, irgendwann mal als Kapitän der Nationalmannschaft im Endspiel der Weltmeisterschaft in ein riesiges Stadion einzulaufen. Hätte ich diese Vorstellungskraft auch gehabt, wenn ich seit meiner frühen Kindheit als minderwertig angesehen und behandelt worden wäre? Wenn es mir z. B. (als kleines Beispiel von vielen absurden und schikanierenden Gesetzen) nicht erlaubt gewesen wäre, Schokolade zu kaufen oder meine Familie nur aufgrund ihrer kulturellen bzw. religiösen Zugehörigkeit kein Radio besitzen durfte? Margot durfte sich als Jüdin nicht einmal auf die schönen Bänke auf dem Deich setzen, wo mein Klassenkamerad Adrian und ich nach so manchem nervenaufreibenden Schultag saßen, um auf den Rhein zu schauen, die Möwen zu beobachten und über das Leben zu philosophieren. Wir redeten oft über diese ganzen Pläne, die wir für die Zukunft schmiedeten, all die wunderbaren Visionen und Luftschlösser eben, die man sich als junger Mensch so ausmalt. Ich hoffe, Margot konnte sich in ihrem viel zu kurzen Leben, dass so von Schmerz und Schikane geprägt war, wenigstens ihre Träume und Fantasie bewahren. Mir wurde dies sicherlich einfacher gemacht. Aufgrund ihres bis heute unsicheren Schicksals ist es nicht ganz sicher, ob sie zu jenen Jüd*innen gehörte, die in eine der Neuwieder Turnhallen eingepfercht wurden, um unter unmenschlichen Bedingungen auf ihre Deportation zu warten. In jedem Falle muss es eine sehr schwere, unbarmherzige Zeit gewesen sein, die letzte Zeit ihres Lebens.  

Natürlich können wir die ganzen Fragen, die ich im Laufe dieses Textes stelle, niemals sicher beantworten. Wir wissen nicht einmal genau, und das bedrückt mich im Fall von Margot Levy besonders, unter welchen Umständen sie ums Leben gekommen ist. Den offiziellen Unterlagen zufolge soll sie ins KZ von Theresienstadt deportiert worden sein. Eine Bekannte der Familie betonte mit ziemlicher Sicherheit, sie dort nicht gesehen zu haben. Es gibt Gerüchte, dass sie sich zusammen mit ihrer Mutter, um ihrem Schicksal vorauszugehen, das Leben nahm. Sicher scheint dabei nur, dass dieses Neuwieder Mädchen wahrscheinlich im Alter von 14 Jahren viel zu früh starb.

Diese ganzen Fragen können zwar nicht sicher beantwortet werden, doch ich denke, es ist wichtig, sie zu stellen. Sich bewusst zu machen, dass von diesen sechs Millionen ermordeten Juden, diese riesige Zahl, die so groß ist, dass sie schon fast abstrakt scheint, jeder Einzelne seine eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Träume hatte, die ihn zu etwas Einzigartigem machten. Genauso wie Margot, genauso wie du, genauso wie ich. Warum also über unser Leben in der Gegenwart hinausdenken, durch das Erinnern in die Vergangenheit hinabsteigen und versuchen, sich irgendwie in die Menschen hineinzuversetzen, welche ein so großes Unrecht und eine solche Grausamkeit erfahren mussten?

Vielleicht, weil es uns hilft, auch in unserer Zeit aufmerksamer durch eine Welt zu laufen, die immer noch voll von Ungerechtigkeit und Ausgrenzung steckt. Weil es uns hilft, jene oft subtilen Mechanismen zu entlarven, die dazu führen, dass sich auch heute Mauern um das Bewusstsein und Leben einiger Menschen bauen, die sie daran hindern, sich selbst zu verwirklichen und an sich zu glauben, nur aufgrund von Merkmalen, für die sie nicht einmal etwas können. Natürlich können wir uns nicht anmaßen, diese ungeheuerlichen Schrecken, von denen Margots Leben nahezu in seiner Gänze geprägt war, im Ansatz nachvollziehen zu können. Doch wir müssen es versuchen. Mit dieser Empathie fängt es an, mit dem Mut etwas zu verändern und sich Ungerechtigkeit in den Weg zu stellen, geht es weiter. Ob ich diesen Mut damals gehabt hätte? Ich kann es nicht sagen. Aber wer weiß, hätte es damals mehr Menschen mit Empathie und einem solchen Mut gegeben, vielleicht würde Margot Levy dann auch heute noch als alte Dame unter uns weilen und uns von den Erlebnissen, ihren Bekanntschaften und Erkenntnissen aus der Reise ihres Lebens erzählen.

Bei der Recherche für diesen Artikel halfen mir sehr das im Text zitierte Buch „Auch ich war ein Kind dieser Zeit“ von Toni Dasbach, welches ich auch für Nicht-Neuwieder als sehr lesenswert empfinde, sowie die umfangreiche Chronik „Jüdische Gemeinde Neuwied“ von Franz Regnery. Vieles recherchierte ich schon 2016 für mein Anne-Frank-Projekt „Rallye auf den Spuren vom Holocaust durch Neuwied“, bei der meine Projektpartnerinnen und ich eine kleine Schnitzeljagd durch Neuwied entlang geschichtsträchtiger Orte der NS-Zeit organisierten. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Wüst vom Deutsch-Israelischen Freundeskreis in Neuwied, bei dem ich mit meinen Fragen immer ein offenes Ohr fand. Als wichtige Initiative für Erinnerungskultur in Neuwied möchte ich hierbei noch auf die umfassende Website www.stolpersteine-neuwied.de verweisen, in welcher die Namen der Neuwieder Opfer des Holocausts, häufig mit einer kurzen Biografie und Bildern, gespeichert sind.

 

Lorenz Mielke