Erinnerungskultur in der Zukunft

„Jaja“, brummelt der Herr neben mir in der S-Bahn unter seiner Maske hervor, „verrückte Zeiten“.

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„Jaja“, brummelt der Herr neben mir in der S-Bahn unter seiner Maske hervor, „verrückte Zeiten“. Frustriert knüllt er die Zeitung zusammen, in der wieder von Corona und steigenden Fallzahlen berichtet wird, und steigt aus. Ich komme in dem schönen Gemeinschaftsgarten in Berlin-Moabit an, wo ich die Ruhe finden will, um diesen Artikel zu schreiben. Auf der Bank neben mir erklärt ein junger Mann mit lauter Stimme seinem Kumpel, wie alle politischen Entscheidungsträger*innen aus den gleichen zionistischen Geheimorden stammen und die Impfung dazu nutzen wollen, um die Menschheit zu Maschinen zu machen. Jaja. Verrückte Zeiten. Und wir sind live dabei, Leute!

Wie werden wir wohl irgendwann mal unseren Kindern von den nächtlichen Ausgangssperren und ausverkauften Klopapierrollen erzählen? Wenn die Zeiten wieder besser werden, schaffen wir es, durch diese Erinnerungen dankbarer für die Gegenwart sein?

Wenn ich daran denke, wie ich irgendwann mal an die jetzige Zeit zurückdenke, kommt mir häufig ein Gedanke, der mich fasziniert. Und zwar fällt mir auf, dass ich gerade beobachtet werde. Von meinem zukünftigen Ich in seinen Erinnerungen. Daraufhin stellt sich mir immer die Frage: Woran will ich (mich) später eigentlich erinnern?

Mehr denn je scheinen wir es in der Hand zu haben, wie wir unser Leben gestalten, in jedem Moment sind wir die Schöpfer*innen unserer Erinnerungen. Dazu müssen wir aufmerksam sein gegenüber den Zeichen der Zeit. Es ist unsere Entscheidung: Gerade heutzutage bieten Streamingdienste, Spielekonsolen und Smartphones die besten Möglichkeiten, unseren Kopf mit bedeutungslosem Zeug zu füllen, das wie ein Boomerang in unser Bewusstsein fliegt, uns kurz unterhält, dann wieder verschwindet und nichts dort hinterlässt.

Der technische Fortschritt bestimmt unser Leben mehr denn je, macht es in vielen Bereichen vielleicht sogar einfacher. Doch können wir wirklich sagen, dass wir dazugelernt haben? Es ist schwer, daran zu glauben, wenn es nach Ereignissen wie in Auschwitz auch 2021 immer noch Leute gibt, die „Sieg Heil“ schreien und den rechten Arm heben. Es geht natürlich auch etwas subtiler, wenn ich in dunklen Ecken auf social media oder sogar hier auf der Bank neben mir etwas von zionistischen Weltverschwörungen hören muss, welche die Schuld an Corona oder sonstigem Übel auf der Welt tragen. Solche Verschwörungstheorien ziehen sich immer noch wie ein zäher Faden durch die Gegenwart und das, nachdem die Geschichte traurigerweise genau offenbart hat, was solche Mythen wie z. B. die Dolchstoßlegende anrichten können. Wer weiß? – Wenn behutsamer mit den Erinnerungen aus den dunklen Kapiteln der Geschichte umgegangen worden wäre, hätte man vielleicht manche aktuelle Dummheit verhindern können.

Auf der anderen Seite weiß ich, dass nicht jede*r das Glück hatte, auf eine Initiative wie das Anne Frank Zentrum zu stoßen. Hier lernte ich viel über die Macht des Erinnerns und wie wertvoll jede*r mahnende Zeitzeug*in aus jenen dunklen Kapiteln der Geschichte ist. Bedauerlicherweise schwinden aufgrund der fortlaufenden Zeit solche Zeug*innen immer weiter aus unserer Welt und es ist unsere Entscheidung, was wir mit ihren Erinnerungen machen: Lassen wir sie weiterleben, lassen wir ihre Lehren vielleicht sogar unsere Gegenwart beeinflussen oder schmeißen wir sie träge auf den Friedhof des Vergessens?

Dabei müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, dass auch wir irgendwann mal Zeitzeug*innen unserer jetzigen Gegenwart sein werden. Also nochmal, denn ich finde das ist eine sehr herausfordernde und wichtige Frage: Wenn unsere Beine irgendwann mal müde werden und die Haare grau sind, was werden wir unseren Enkelkindern, die uns in Hologrammen von ihrem Urlaub auf fremden Planeten zugeschaltet sind, von „heute“ erzählen?

Natürlich haben wir nicht immer Einfluss darauf, was in dieser Welt passiert, aber wäre es nicht cool, erzählen zu können, dass uns nicht alles egal war, dass wir uns Gedanken gemacht haben, für Gerechtigkeit eingetreten sind und vielleicht sogar die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben. Wäre es nicht cool, wenn die Generationen nach uns merken, dass Energie hinter dem steckt, was wir ihnen berichten. Dafür ist es, glaube ich, wichtig, dass man sich zusammenschließt. Natürlich ist jede schöne persönliche Erinnerung etwas unglaublich Wertvolles, das wir unbedingt in unserem Herzen behalten müssen. Die Zeit mit den Menschen, die wir lieben, die interessanten Orte, die wir entdecken und die ganzen abgefahrenen Leute, die wir im Laufe unseres Lebens kennenlernen. Doch was ist das schon gegenüber dem gewaltigen kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation, die weiß, dass sie etwas verändert hat.

Wo fangen wir da bloß an? Vielleicht hätte ich den Dude neben mir auf der Bank mal darauf aufmerksam machen können, was er für einen Bullshit erzählt. Stattdessen habe ich mir gechillte Musik auf meinen Kopfhörern angemacht, um mich besser konzentrieren zu können. Tja, so einfach kann man es sich heute eben machen. Natürlich hätte mein Eingreifen nicht die Welt gerettet, wahrscheinlich hätte ich nicht einmal etwas in dem jungen Mann verändert, aber bei seinem etwas unentschlossen wirkendem Kumpel vielleicht schon. Also, lasst uns lieber aufmerksamer sein. Lasst uns mutig sein. Lasst uns zuhören, wenn Ältere von der Vergangenheit erzählen, lasst uns daraus für die Gegenwart lernen, um die Zukunft zu formen. In der Hoffnung, dass man irgendwann mal von uns lernen kann, nicht als Mahnung, sondern als Vorbild. Das würde ich mir wünschen.

Lorenz Mielke