»Du Opfer«

Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie klar die Lager der Gewinner und Verlierer dieser Kämpfe in der geopolitischen Ordnung des Pausenhofs voneinander getrennt waren.

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Schule … Noch intensiver als die kryptischen Matheformeln oder die Romaninterpretationen, in welchen die Gardinenfarben auf wundersame Weise das Seelenleben des Autors widerspiegeln sollten, bleibt aus dieser Zeit das soziale Miteinander in Klassenraum und Schulhof im Gedächtnis. Hier wurde jeden Tag in blutigen Kämpfen darum verhandelt, wer man ist, wer man überhaupt sein darf und welchen Platz man in der Nahrungskette einnimmt. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie klar die Lager der Gewinner und Verlierer dieser Kämpfe in der geopolitischen Ordnung des Pausenhofs voneinander getrennt waren. Auf der Treppe Richtung Sporthalle stand, lässig gekleidet in die trendigen »Billabong«- und »Jack&Jones«-Jacken der Adel innerhalb der Hierarchie der Mittelstufe. Auf ihre Gunst war man angewiesen, sie waren die Wächter des sozialen Punktesystems und hatten die Macht zu entscheiden, welches Verhalten sanktioniert oder belohnt wird. Neben dem Bungalow, in welchem der Hausmeister wohnte, stand in stillen Grüppchen das Prekariat. Das waren jene, die im Kampf um die Deutungshoheit am wenigsten mitzubestimmen hatten, sondern viel mehr von außen ihre Position aufgedrückt bekamen und kaum etwas dagegen tun konnten. Und diese Position hatte ihren klaren Namen. Wer dort stand, war als »Opfer« gebrandmarkt. Während auf beiden Enden der Beliebtheitsskala klare Vertreter zu finden waren, deren Abstiegsrisiken bzw. Aufstiegschancen nahezu ausgeschlossen waren, standen zwischen diesen beiden Polen alle anderen. Die Angehörigen jener Mehrheit, die durch ihre unsichere Lage besonders in die Bedrängnis geriet, sich beweisen zu müssen. Und so legten wir uns vor jedem Schultag unsere Rüstung an, schlüpften in die viel zu teuren Nikes, streiften uns das Adidas-Shirt über, das unser letztes Taschengeld gekostet hat, bis wir schließlich das Schlachtfeld mit einer einzigen Mission betraten: Bloß kein »Opfer« sein. Und im Gegensatz zu unseren Leistungen im Kunstunterricht war der Kreativität der Gemeinheiten in dieser Mission keine Grenzen gesetzt: Ich erinnere mich an heruntergezogene Hosen vor der gesamten Klasse (auch den Mädchen natürlich) im Sportunterricht, an klebrige Kaugummis in Kapuzen, an dünne Körper, die im Schwitzkasten durch den Schulflur gezogen wurden und an vieles mehr. Während in unserem alltäglichen Sprachgebrauch die unterschiedlichsten Beleidigungen kursierten, die abseits ihrer eigentlichen Bedeutung hauptsächlich darauf abzielten, die Würde des anderen anzugreifen und zu verletzen, scheint das Schimpfwort »Opfer«, dass in der Jugendsprache etwa seit den 2000ern auftritt, noch weiter gefasst werden zu müssen. Es diente vielmehr als die passende Bezeichnung für einen sozialen Status innerhalb der pubertären Peer-Gemeinschaft, in welcher jede Bestätigung im Ringen nach Identität dankbar aufgenommen wurde. Die Konzeption des »Opfers« stellt dabei allerdings kein positives Identitätsangebot zur Verfügung. Denn bevor man sagen kann, wer man ist, scheint es einfacher zu sein, zunächst herauszufinden, wer oder was man nicht sein will. Und dafür war die Rolle des »Opfers« die perfekte Projektion. Sie diente uns als negativer Orientierungspunkt, als Antithese zu allem, was man zu sein anstrebte. Eine der einfachsten Möglichkeiten, die eigene Unsicherheit zu überspielen ist es, in irgendeiner Art und Weise ein Gefühl von Überlegenheit herzustellen. In der Jagd nach dieser kurzfristigen Bestätigung wurde alles, was irgendwie anders war, jeder, der außerhalb des Schutz gewährenden Schwarmes durch den Ozean des Erwachsenwerdens trieb, zur perfekten Zielscheibe. Doch insgeheim schaute ich manchmal etwas neidisch auf die Computernerds mit Metal-Shirts, die sich selbst treu blieben, trotz der täglichen Schikane, die sie − nach außen hin − meist stoisch hinnahmen, und nichts an ihren abgelatschten Deichmannschuhen und den Dreiviertelhosen mit Gummizug änderten. Auch wenn sie damals für alles standen, was ich ablehnte, sind sie heute für mich die heimlichen Helden dieser Zeit. Denn im Rückblick merke ich wie sehr ich mich verbogen habe, wie ich Emotionen und Talente unterdrückt habe, nur um andere und vor allem mich selbst von einer Stärke zu überzeugen, die ich gar nicht besaß. Stattdessen habe ich Dinge getan und Worte gesagt, für die ich mich heute schäme. Natürlich gehören das Austesten eigener und fremder Grenzen im Gruppengefüge und die Suche nach Bestätigung untrennbar zu den aufreibenden Prozessen der Adoleszenz. Im besten Falle heißt Erwachsensein aber, so früh wie möglich zu lernen, dass man mehr sein kann als (k)ein »Opfer« und dass es wichtigeres gibt als die Meinung anderer. Wenn eine solche Selbstakzeptanz besteht, ist es außerdem wahrscheinlich einfacher zu tolerieren, dass Menschen unterschiedlich sind. Im schlimmsten (und leider viel zu häufigen) Fall entstehen allerdings solche furchtbaren Mechanismen wie systematisches Mobbing, das sich auch zu Rassismus verfestigen kann. Wer in der Mühle solcher Prozesse zum »Opfer« wird, kann ein Leben lang darunter leiden. Die psychischen Auswirkungen sind gravierend und können Teil einer gesellschaftlichen Ordnung sein, in welcher der Stärkere oder in höherem Maße Privilegiertere von der sozialen Benachteiligung anderer Menschen und Gruppen profitiert. Die Frage, was wir dagegen tun können, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Erziehung und Bildungsprozesse müssen Resilienz gegen diese Mechanismen aufbauen und neben der fachlichen Bildung durch Unterrichtsstoffe auch soziale und demokratische Kompetenzen vermitteln. Doch, wer hätte es gedacht, der erste Schritt fängt immer bei uns selbst an.

Lorenz Mielke, geb. 1997, lebt in Berlin und ist Masterstudent im Fach Erziehungswissenschaft an der Humboldt Universität.

Erstmalige Veröffentlichung bei quatember.org