Chancengleichheit?

Schule im »Brennpunkt«

Karikatur von Unbekannt in Anlehnung an Hans Traxlers Karikatur (1976)

Idealerweise sollten Schulen alle Schüler*innen unter fairen Bedingungen fördern. Seit meiner Schulzeit bin ich mir aber sicher: Davon ist Deutschland heute so weit entfernt, wie ich davon, in nächster Zeit auf den Mond zu fliegen. Trotzdem glauben viele immer noch daran, dass in unserer Gesellschaft jede und jeder so gut wie alles erreichen kann, wenn er oder sie es nur will und sich nur genug anstrengt. Was daran alles nicht stimmen kann, konnte ich in meiner eigenen Schulzeit gut beobachten, deshalb möchte ich meine Erfahrungen teilen.

Ich bin in Bremen zur Schule gegangen. In der Mittelstufe, also von der 5. bis zur 10. Klasse, war ich auf einer Schule mit einem jahrgangsübergreifenden Konzept im hippsten Stadtteil Bremens. Die Schüler*innenschaft gestaltete sich dementsprechend: ein Haufen fahrradfahrender, vegetarischer Hipsters mit Akademiker-Eltern.  Ich war also so richtig schön drinnen in meiner grünen Bubble, in der Abitur und ein Studium eigentlich eine Selbstverständlichkeit waren. Doch diese Bubble zerplatzte – zum Glück –  als ich für die Oberstufe auf eine neue Schule wechselte.

Der Stadtteil Gröpelingen, in dem ich jetzt zur Schule ging, war nicht bekannt für Kneipen, kleine Läden und hübsche Alt-Bremer-Häuser, sondern für Kinderarmut, Arbeitslosigkeit und Migration. Also genau das, was man sich unter einem sogenannten „sozialen Brennpunkt“ vorstellt. Um die Situation besser einordnen zu können, hier ein paar Zahlen: Die Arbeitslosenquote liegt knapp bei 27,4 Prozent[1], im Vergleich zum Bundesdurchschnitt bei ca. 5 bis 6 Prozent. [2]  Entsprechend hoch ist auch die Kinderarmut. In diesem Bereich ist Bremen ohnehin schon bundesweiter Spitzenreiter mit 34,2 Prozent[3], wobei die Zahlen in Gröpelingen besonders hoch sind. Wenn man sich parallel dazu die Abiturquote Gröpelingens mit 12,7 Prozent [4] im Vergleich zur Quote in Bremen insgesamt mit 29 Prozent oder des wohl reichsten Stadtteil Bremens Oberneuland mit 74 Prozent ansieht, wird schnell deutlich, dass da etwas in unserem Bildungssystem schief läuft. Dies entspricht meiner Wahrnehmung aus der Schulzeit:

Im Gegensatz zu meiner alten Schule war meine neue sehr "divers". Grob geschätzt hatten in meinem Jahrgang die Hälfte der Schüler*innen einen Migrationshintergrund, manche hatten Eltern die Akademiker*innen waren, während andere mit Hartz 4 aufgewachsen sind. Trotz aller Unterschiede war die Stimmung im Jahrgang super und sehr bereichernd, da wir viel voneinander lernen konnten. Gemerkt hat man die Unterschiede vor allem an den Noten und  an dieser Stelle wird das strukturelle Problem ersichtlich.  

Eine der ersten Dinge, die mir aufgefallen sind, als ich neu in die 11. Klasse kam, war, dass für viele meiner Mitschüler*innen Deutsch nicht die erste Muttersprache war. Zu Hause sprachen sie eher Türkisch, Arabisch oder andere Sprachen und ich war ziemlich beeindruckt, da manche meiner Mitschüler*innen drei oder vier Sprachen fließend sprechen konnten. Doch für das Abitur war vor allem ein gutes Sprachgefühl in Deutsch wichtig, da die Klausuren in den meisten Fächern das präzise Formulieren von Fließtexten forderten. Das stellte dann für viele eine große Herausforderung dar, mit der sich Menschen aus deutschsprachigen Haushalten nicht befassen mussten.

Ein weiterer Faktor, der die Schullaufbahn im Positiven oder Negativen beeinflussen kann, ist der Bildungsgrad der Eltern. Diese Tatsache ist traurig aber wahr. Es fängt oft auch schon wieder bei der Sprache an. So konnte ich feststellen, dass die Freund*innen von mir, die Akademiker-Eltern haben, es oft viel leichter hatten, eine komplizierte Fachsprache zu verstehen. Und das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass alle Akademiker-Kinder schlauer sind, sondern einfach an der Tatsache, dass diese durch die Eltern und das Umfeld oft viel früher schon in Berührung mit Fachbegriffen gekommen sind. Oder eben Eltern haben, die sie bei Schulaufgaben unterstützen und im beruflichen Werdegang eine wichtige Hilfestellung leisten können. Eltern, die in ihrer Bubble wahrscheinlich wieder Freunde oder Verwandte haben, die ebenfalls Ärzte, Anwälte oder Architekten sind und sie ebenfalls unterstützen können. Und damit haben sie einen riesen Vorteil, den andere eben nicht haben.

Mit der Perspektive auf Abitur und Studium verhält es sich ähnlich. Während mir durch mein Umfeld vermittelt wurde, dass beides gut zu schaffen ist und ich auch dafür geeignet bin, war das bei einigen meiner Freund*innen ganz anders. Einer meiner besten Freunde erzählte mir mal, dass in seinem privaten Umfeld eigentlich niemand wäre, der studiert habe. Und man merkte, dass wir beide eine völlig andere Perspektive auf ein Studium hatten.

Ein Grund, warum ich vielleicht teilweise weniger lernen musste als einige andere, ist wahrscheinlich, dass mir von Haus aus viel mehr Möglichkeiten geboten wurden, mir Wissen anzueignen. Denn bei uns zu Hause lief ab 20 Uhr immer die Tagesschau und als Kind wurde ich in jegliche Museen gezerrt. Die Freund*innen von mir, die auch Akademiker-Eltern haben, berichten von einer ähnlichen Kindheit inklusive Museum und Logo (Kindernachrichten Sendung), während eine andere Freundin von völlig anderen Erfahrungen erzählte. Teure Nachhilfe und Museumsbesuche mit der Familie kamen in ihren Berichten so gut wie nie vor. Dabei hängt dies aber nicht immer nur vom Interesse der Eltern ab, sondern vor allem von Zeit und Geld, um dem eigenen Kind Bildung außerhalb der Schule überhaupt zu ermöglichen. Die Freundin von mir berichtete aber, dass nicht mal Geld für einen Urlaub da ist, geschweige denn für außerschulische Bildung. Unsere Startbedingungen sind entsprechend unterschiedlich.

Die Frage ist nun, warum unser Schulsystem es nicht schafft, diese Ungleichheiten auszugleichen. Es fehlt hier an individueller Förderung, die an die jeweiligen Bedürfnisse der Schüler*innen angepasst ist. Stattdessen gleicht unser Schulsystem eher dem One-Size-fits-All Konzept a la Brandy Melville (eine Bekleidungsmarke, die nur eine Konfektionsgröße herstellt und laut Unternehmen allen zwischen den Größen 32 und 40 passen soll). Hinzu kommt, dass viel zu große Teile des Bildungsauftrags in der Verantwortung der Eltern liegen, die diesem auch nur entsprechend ihrer Ressourcen nachkommen können. Die Schulen sollten hier viel mehr Verantwortung übernehmen, dafür braucht es aber Investitionen, und vielleicht auch mehr Personal. Denn viele Schulen, so wie meine auch, haben viel zu wenig Geld und Personal, um überhaupt individueller auf die Schüler*innen einzugehen und Angebote außerhalb des Lehrplans schaffen zu können.

Corona bzw. das Homeschooling sorgte dann noch einmal für eine Verschärfung der unfairen Ausgangssituation. Der Nachteil zuhause weniger Platz und Ruhe zu haben, da man sich aus finanziellen Gründen beispielsweise das Zimmer oder den Computer mit Geschwistern teilen muss, führte zu einem Auseinanderdriften der schulischen Leistungen zwischen den Einkommensklassen.  Bei vielen war zuhause nichts mit Ruhe, und technische Ausrüstung war teilweise auch knapp, so dass das Einkommen der Eltern einen direkten Einfluss auf die Lernmöglichkeiten und den Lernerfolg der Kinder hatte.

Am Ende unserer Schullaufbahn zeigte sich somit traurigerweise: Die besten Abis hatten die mit gut verdienenden Akademiker-Eltern und ohne Migrationshintergrund (Ausnahmen bestätigen die Regel). Und das, obwohl wir alle drei Jahre lang auf derselben Schule waren, den gleichen Lehrplan durchliefen und am Ende die gleichen Prüfungen schrieben. Doch leider waren wir wohl nie gleichgestellt, da unsere Startbedingungen so unterschiedlich waren. Ich finde es traurig, dass unser Schulsystem in Deutschland es kaum schafft, diese unterschiedlichen Startbedingungen auszugleichen. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass diese Unterschiede noch verstärkt werden, in dem  z. B. der Bildungsauftrag zu großen Teilen auf das Elternhaus abgewälzt wird, und das kann doch nicht sein. Es muss ein Umdenken stattfinden, wir brauchen neue Konzepte, die ein individuelles Lernen ermöglichen und größere Investitionen ins Bildungssystem, damit mehr Angebote geschaffen werden können. So wie es jetzt ist, kann es auf jeden Fall nicht weitergehen, denn unser heutiges Schulsystem ist veraltet, unfair und unfähig, soziale Ungleichheiten zu verringern.

 

Lotta Petry

 


[1]

www.deutschlandfunk.de/wachsende-armut-bremen-in-der-abwaertsspirale-100.html

Stand: 29.11.21

[2]

www.arbeitsagentur.de/news/arbeitsmarkt-2021 Stand: 29.11.21

[3]

www.bundestag.de/resource/blob/514144/9806e9989a225bde4d71460aac021a6a/wd-9-017-17-pdf-data.pdf Stand: 29.11.21

[4]

www.weser-kurier.de/bremen/stadtteil-groepelingen/sozialdaten-fuer-groepelingen-sind-alarmierend-doc7e4jldrpabd193etbdl5 Stand: 29.11.21